Sakshi Bhava
Erkennen, was ist
Sich selbst als neutralen Beobachter zu sehen ist nicht nur eine Meditationstechnik und philosophische Betrachtungsweise; es ist auch eine innere Einstellung, die unser alltägliches Leben erleichtern und verbessern kann. Noch dazu ist Sakshi Bhava die Grundlage von Achtsamkeit.
Begriffserklärung
“Sakshi” heißt Zeuge, Beobachter; “Bhava” ist eine Einstellung, ein Gemütszustand, ein Grundgefühl des Menschen. “Akshi” ist das Auge, “Sakshi” bedeutet auch: Mit Auge. Sakshi Bhava bezeichnet die Einstellung, ein neutraler Beobachter aller Handlungen, Gefühle und Gedanken zu sein, ein unberührter Zeuge. Ich beobachte alles, was passiert, bewerte es aber nicht und identifiziere mich nicht damit. Ich analysiere auch nicht was passiert, ich lasse es geschehen, nehme es zur Kenntnis und gebe ihm einen neutralen Namen, ein Label.
Wenn Wut in mir aufsteigt, nenne ich es “Empfindung im Herzen”. Ich schaue mir dieses Gefühl an, beobachte, wie es sich auf meinen Blutdruck und meine Atmung auswirkt, steigere mich aber nicht hinein. Das Gefühl wird vorbeiziehen, wie Wolken am Himmel an einem windigen Tag.
Meditationstechnik und Philosphie
Sakshi Bhava ist auch eine Meditationstechnik: Man wendet sie während der Achtsamkeitsmeditation, im Buddhismus in der Vipassana Meditation an. Bei den Yogis ist Sakshi Bhava sowohl eine Meditationstechnik im Raja Yoga (Yogaweg der Meditation) als auch ein philosphisches Prinzip im Jnana Yoga (Yogaweg der Philosophie).
Im Vedanta, einer indischen Philosophie, stellt man sich mit Sakshi Bhava die Grundfrage: “Wer bin ich?” Man kann sie nicht mit dem Verstand erfassen und auch nicht durch das Lesen von Philosophiebüchern. Der menschliche Verstand und seine Vorstellungskraft sind beschränkt. Durch Meditation kann man diese Grenzen aber überschreiten und erkennen, was die wahre Natur des Menschen ist. Wir werden feststellen: Alle Eindrücke, Gedanken und Gefühle kommen. Wenn ich ihnen einen Namen gebe und mich nicht mit ihnen identifiziere, gehen sie aber auch wieder. Es ist wie die Brandung des Meeres: Die Wellen kommen, die Wellen gehen. Aber ich bin nicht die Wellen. Ich bin das allem zugrunde liegende Bewusstsein, ich bin Sakshi Bhava, der unberührte Beobachter.
Das mag alles reichlich abstrakt und abgehoben klingen. Das Schöne an Sakshi Bhava ist aber, dass es uns auch im Alltag sehr nützlich sein kann - es ist die Grundlage von Achtsamkeit, die man in jeder Lebenslage wunderbar gebrauchen kann.
Nutzen von Sakshi Bhava im Alltag
Wenn ich mich immer wieder daran erinnere, dass ich ein neutraler Beobachter all dessen bin, was passiert, dann gewinne ich eine gesunde innere Distanz zu den äußeren Umständen und auch allem, was in mir vor sich geht. Ich identifiziere mich nicht mehr mit der momentanen Situation oder den derzeitigen Ereignisssen. Ich bin nicht meine Gedanken, nicht meine Gefühle und auch nicht mein Körper. Habe ich zum Beispiel starke Rückenschmerzen, könnte ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, meine Muskeln würden sich verkrampfen, der Schmerz würde immer schlimmer werden. Ein versierter Sakshi Bhava Praktizierender würde aber sofort erkennen, dass er nicht sein Körper ist, dass er nicht der Schmerz ist. Er würde diesem Ereignis in seinem Körper einen neutralen Namen, ein Label geben, zum Beispiel “Wahrnehmung im unteren Rücken”.
Natürlich geht der Schmerz davon nicht weg, aber er verliert seine Macht. Der Praktizierende würde neben dem Gefühl im unteren Rücken beispielsweise auch wieder wahrnehmen, dass die Vögel zwitschern und die Sonne scheint.
Sakshi Bhava hilft uns dabei, zu erkennen und zu akzeptieren was jetzt ist und was wir gerade nicht ändern können.
Handlungsfähig bleiben
Das bedeutet aber nicht, dass wir nur noch beobachten und nicht mehr handeln. Ganz im Gegenteil: Mit Sakshi Bhava lernen wir, klassische Reiz-Reaktions-Muster zu durchbrechen. So entsteht ein Raum, der es uns ermöglicht, angemessen und wohlüberlegt auf eine Situation zu reagieren. Ich handele dann zum Nutzen aller Beteiligten.
Sakshi Bhava heißt auch nicht, dass ich gefühllos werde wie ein Stein. Es bedeutet lediglich, dass ich lerne, mich von meinen Gefühlen distanzieren zu können. Die Gefühle werden aber weiterhin kommen und gehen. Ich werde dieses Kommen und Gehen beobachten und dabei eine heitere Gelassenheit empfinden. Ich werde Mitgefühl entwickeln für alle empfindsamen Lebewesen.
Vielleicht probierst Du es einfach einmal aus und machst Dir ein eigenes Bild davon:
Sakshi Bhava Meditation
Nimm Deinen Meditationssitz ein, sitze aufrecht und gerade, ruhig und bewegungslos. Beobachte alles, was geschieht und gib ihm bis zu dreimal hintereinander einen neutralen und allgemeinen Namen, ein Label. Gefühle kannst Du zum Beispiel mit “Empfindung im Herzen” etikettieren, Geräusche mit “Wahrnehmung in den Ohren”. Bewerte nichts, interpretiere nichts, analysiere nichts von dem, was während der Meditation auftaucht. Bleibe offen und neugierig für alles, was passiert und benenne immer die Erfahrung, die sich gerade in den Vordergrund drängt. So kannst Du Dich von ihr lösen und sie loslassen. Wenn kein besonderes Gefühl, kein besonderer Gedanke und kein Sinneseindruck aufkommt, benenne einfach Deinen Atem - an der Nasenspitze oder im Bauchraum - zum Beispiel mit “Bauchdecke hebt sich, Bauchdecke senkt sich”.
Übe diese Meditation für fünf bis 25 Minuten, wenn möglich täglich. Nach und nach wirst Du die Technik dann auch immer wieder im Alltag anwenden, ganz spontan und ungeplant, genau dann, wenn sie Dir gute Dienste erweisen kann.